KÜNSTLERIN CAROLIN SEELIGER – MEER UND MENSCHLICHER EINFLUSS

 

Wir sind immer auf der Suche nach Menschen, die sich mit Veränderung und Handlungsfähigkeit auseinandersetzen. Heute sprechen wir mit der Künstlerin Carolin Seeliger, die sich in partizipativen Kunstinterventionen mit den Themen Meer und menschlicher Einfluss auseinandersetzt. Sie setzt auf Kollaborationen mit Forschenden und möchte Wissen nicht nur generieren und intellektuell begreifen, sondern emotional erfahrbar machen. Ihre künstlerische und experimentelle Auseinandersetzung mit Plastik eröffnet Erfahrungs- und Aktionsräume und regt an, aus einer neuen Perspektive nach nachhaltigen Lösungen für die Zukunft zu suchen.

SUMMER OF 2030 – AMELIE GR. DARRELMANN

Das Ocean Future Lab bringt Menschen zusammen, die ihre Fragen und Ideen für eine nachhaltige Zukunft unserer Meere austauschen und gemeinsam kreative Impulse und Visionen entwickeln. Mit „Upstream Algae Shopping Spree” bist du für den diesjährigen Hackathon nominiert. Kannst du uns mehr über das Projekt und deinen Ansatz erzählen?  

CAROLIN SEELIGER

Entwickelt habe ich „Upstream Algae Shopping Spree“ gemeinsam mit den Künstler:innen Kathrin Köster und Daniel Kupferberg. Wir arbeiten in partizipativen Kunstinterventionen zum Thema Meer und menschlicher Einfluss. Uns interessiert, die Verbindung zwischen unserem Handeln und dem Meer erlebbar zu machen und gleichzeitig in einem schöpferischen Akt einen künstlerischen Ausdruck für Wünsche, Ängste und Veränderung zu finden.

Für das Ocean Future Lab möchten wir Plastiktüten aus Meeresalgen herstellen.

Wir halten die Plastiktüte für ein spannendes Objekt: Als Werbeträger und Symbol des Massenkonsums hat sie es geschafft, in unberührte Tiefen der Natur vorzudringen. Algen spielen für uns eine interessante Rolle in Bezug auf Nachhaltigkeit, CO2-Kompensation und innovative regenerative Materialien.

Für „Upstream Algae Shopping Spree“ möchten wir mit lokalen Gruppen (Einheimische, Wissenschaftler:innen, Fischer:innen, Besucher:innen, Schüler:innen) in kollektiven Workshops aus Meeresalgen Objekte herstellen, die in ihrer Form an Plastiktüten erinnern. Bei einer anschließenden Prozession, erinnernd an eine Einkaufsstraße, wird die eigene Algentüte getragen, um sie anschließend zu einer großen kollektiven Skulptur zusammenzufügen. Danach können die Tüten mit individuellen Botschaften ans Meer zurückgegeben werden.

„Upstream Algae Shopping Spree“ dient als Experimentier- und Erfahrungsraum, in dessen Rahmen wir unseren Umgang mit der Natur hinterfragen, neue Möglichkeiten aufzeigen und dem Meer huldigen, indem wir das Material zurückgeben, das wir verändert und genutzt haben und mit dem wir uns verbunden haben.

SUMMER OF 2030 – AMELIE

In eurem Projekt „Upstream Algae Shopping Spree“ erkenne ich Ansätze von Circular Thinking, Kollaboration und Biomimicry. Von der Natur lernen, um menschliche Probleme durch nachhaltige Innovationen zu lösen. Woher stammt dein Interesse für das Meer und seit wann beschäftigst du dich in deiner künstlerischen Arbeit mit Nachhaltigkeit und Klima?  

CAROLIN

Ich habe eine zwiespältige Beziehung zu Plastik, die zwischen Attraktion und Faszination und einer Ablehnung dieses omnipräsenten Materials hin- und herpendelt. Wenn ich Plastiktüten, die vom Wind hochgewirbelt durch die Luft schweben oder im Meer floaten, wunderschön finde, kommt mir das wie eine Sünde vor. Ebenso empfinde ich den Plastikmüll aus Spitzbergen, den ich von Melanie Bergmann vom AWI abholen durfte, wie einen archäologischen Schatz und sehe eine große Schönheit in den vom Meer geformten Fragmenten.

Irgendwie begann es vor 15 Jahren, als ich auf Korsika gemeinsam mit meinem Mann eher intuitiv als geplant anfing, Plastikmüll an den verschiedenen Stränden zu sammeln, die wir bereisten. Wir sortierten die unterschiedlichen Partikel nach Farben und legten ein riesiges Mosaik in den Sand. Schon beim Sammeln sprachen uns viele Leute an und bei dem Plastikmosaik entstand ein Begegnungsraum, in dem sie von ihren Empfindungen und Beobachtungen der immer größer werdenden Präsenz des Plastikmülls im und am Meer berichteten. Für mich war dieser Moment deshalb berührend, weil wir durch unsere kleine Intervention ohne Worte oder Aufklärung eine Aufmerksamkeit für den Zustand des Meeres erzeugt haben.

Aktuell arbeite ich in Kooperation mit Wissenschaftler:innen und oft kollektiv zu Mikro- und Makroplastik im Meer. Für mich ist der Wissenschaftstransfer eine motivierende Herausforderung in meiner Arbeit. Ich initiiere ihn, indem ich die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen über eine künstlerische Übertragung begreifbar und erlebbar mache und durch partizipative Projekte ein aktives Handeln anstoße.

Während einer Recherche bekam ich von einem Meeresforschungsinstitut auf Lanzarote ein Kilo einheimischen Sand mit der Ansage geschickt, dass ich darin schon genug Plastik finden würde. Also filterte ich den Sand. Tatsächlich bestand dieser zufällig abgefüllte Sand fast zur Hälfte aus Plastikpartikeln.

Mit dem Plastik aus dieser Probe sowie Mikroplastikpartikeln aus herkömmlichen Kosmetika habe ich mich in einem künstlerischen Prozess der Lebenswelt der Tiefsee angenähert: Auf einer Glasplatte entwerfe ich Formen, die an mikroskopische Vergrößerungen oder auch an Tiefseelebewesen erinnern. Das teilweise flüssige oder gelartige Material wird mithilfe des fotografischen Prozesses festgehalten, bevor die Formen zerfließen und verschwinden. Sie sind ebenso fragil wie die faszinierende Biodiversität des Meeres unter dem Einfluss des Menschen.

SUMMER OF 2030 – AMELIE

Diesen Moment von Berührtheit, den du am Strand nach eurer experimentellen Intervention und der folgenden Aufmerksamkeit gespürt hast, nahm ich in einem anderen Kontext ebenfalls wahr. Als ich 2020 durch die Ausstellung „There's No Such Thing as Solid Ground” von Otobong Nkanga im Martin Gropius Bau in Berlin geschlendert bin, habe ich beim Anblick ihrer Arbeiten die komplexen Schichten der von Natur und Mensch hinterlassenen Spuren, ohne einen Text zu lesen, nicht nur wahrgenommen, sondern plötzlich im großen Zusammenhang gesehen. Es handelte sich hierbei nicht um eine zufällige Intervention, dennoch hat es etwas in mir ausgelöst. Seitdem beschäftige ich mich damit, wie Rassismus, Kolonialismus und Klimawandel im Zusammenhang stehen. Welche Rolle wird Kunst als Hebel für positive Veränderung im Bereich Klimawandel deiner Meinung nach einnehmen und wie wird sich Kunst nicht nur thematisch, sondern auch im Umgang mit Ressourcen verändern (müssen)?

CAROLIN

Ich sehe, dass Themen wie Rassismus, Kolonialismus und Klimawandel immer stärker in den Kunstkontext eindringen, dass Grenzen von Ausstellungen, partizipativen Interventionen, Performance, politischer Diskussion und Wissensvermittlung weicher werden, dass es in Museen und Galerien Workshops zu Humusbildung und Deep Body Movement gibt.

Die portugiesische Autorin, Psychologin, Theoretikerin und interdisziplinäre Künstlerin Grada Kilomba sagte in einem Interview, dass sie Emotionalität und Spiritualität in der Wissensproduktion sehr vermisse: „Für mich ist das ein sehr wichtiger Teil von ,Decolonizing Knowledge‘. Ich will, dass akademisches Wissen und Diskurs subjektiver und persönlicher werden. Theorie hat mit Biografie zu tun und Biografie mit Theorie. Wissenschaft wird von einer Person produziert, von einer Person geschrieben. Diese Person hat eine Biografie, eine Fragestellung, Emotionen.“ (Grada Kilomba: Wenn Diskurs persönlich wird, missy magazin, 22.04.16)

Wenn ich diesen Ansatz auf meine Arbeit und Art and Science übertrage, wird deutlich, dass es nicht ausreicht, Wissen zu generieren und intellektuell zu begreifen, sondern emotional zu erfahren, welche Entscheidungen nötig sind, um Veränderung zu bewirken. Ein erster Schritt ist, wenn in Galerien und künstlerischen Kontexten ein gemeinsames Lernen und Bewusstwerden stattfindet, wenn gemeinsame Erfahrungs- und Aktionsräume geschaffen werden.

Mit der Künstler:innengruppe „Traces“ haben wir den Ansatz entwickelt, Ideen von Autor:inschaft und Produktivität aufzugeben und unsere eigene künstlerische Praxis in einer Weise nach außen zu öffnen, dass sie zu Partizipation, Austausch und Co-Kreation einlädt. Mit „Traces“ werden wir im August 2022 bei einem dänischen Kunstfestival am Meer einen kollaborativen Webeprozess anregen (Weaving Waves). Bei der gemeinschaftlichen Tätigkeit des Webens werden wir fast ausschließlich mit Rest- oder Abfallmaterialien arbeiten. Die Stoffe sind Verschnitte und Produktionsreste einer lokalen Textilfirma. Färben werden wir sie mit Pflanzen vor Ort und Bioabfall, der beim Kochen auf dem Festival entsteht. Aus der Umgebung möchten wir weitere Materialien verweben (z. B. Algen und Plastikfragmente). Uns interessiert dabei, Grenzen von Autor:inschaft, Kunstproduktion, Müll, Land und Meer zu hinterfragen.

SUMMER OF 2030 – AMELIE

Kollaboration und Partizipation sind wichtige Hebel für Veränderung und Handlungsfähigkeit. Deine Projekte und Ansätze sind ein großartiges Beispiel dafür und zeigen, welche Wirkung gemeinsames Lernen und gemeinsame Erfahrungs- und Aktionsräume schaffen können. Um mit Komplexität umgehen zu können, braucht es systemisches und netzwerkartiges Denken und Handeln. Stößt du mit deinem Ansatz im bestehenden System Kunst mit seinen oft noch linearen, tradierten Machthierarchien an Grenzen? Oder andersherum gefragt, wie reagieren Wissenschaftler:innen auf die systemische Betrachtung von Problemen, die neben Fakten und Daten auch Emotionen adressieren können?

CAROLIN

Ich habe das Gefühl, dass auch in der Kunstszene eine größere Sehnsucht nach relevanten Inhalten und Veränderung entsteht. Die Wissenschaftler:innen, mit denen ich zusammenarbeite, bringen definitiv eine große Offenheit und Interesse am Transfer ihrer Themen mit.

Ich bin im Februar auf den Instagrampost der Künstlerin Swaantje Güntzel gestoßen, die mitteilte, dass am Alfred-Wegner-Institut Meeresplastik aus der Arktis zur Abholung freigegeben wäre. Das Plastik wurde von Birgit Lutz, Autorin, Vortragsrednerin und Expeditionsleiterin, in Spitzbergen im Rahmen einer Expeditionsreise gesammelt und anschließend von der Biologin Dr. Melanie Bergmann (AWI) analysiert. In Bremerhaven stand ich also mit Melanie Bergmann und ihrer Assistentin vor einem Container voller Plastik: riesige Fischernetze (ghost nets), Plastikfragmente, Flaschen und Folien. Ich suchte mir Fragmente, die mich visuell interessierten und ein großes Netz heraus. Mehr konnte ich nicht tragen und im Zug transportieren.

Im Atelier in Berlin habe ich mir das Plastik näher angeschaut. Ich war nun die Dritte, die diese Plastikstücke in den Händen hielt. Mich interessieren besonders die Spuren, die das Plastik von seinem langen Weg im Meer bekommt, wie sich seine Formen verändern und auch der Fakt, dass das arktische Plastik sich gar nicht von dem hiesigen unterscheidet, es ist total global. Ich habe begonnen, Scanogramme und Lumenprints der Plastikfragmente anzufertigen, um sie aus dem dokumentarischen Zusammenhang hinaus in neue Kontexte und Lesarten zu transformieren. Bei der Sammlerin und der Analytikerin des Plastiks stießen die Bilder auf große Resonanz und Freude: @bergmannmelanie @polarbirgit „I can´t believe this comes out of the terrible trash we found in Hinlopenstretet - to me it seems unreal!"

SUMMER OF 2030 – AMELIE

Zu Beginn hast du deine Ablehnung und auch deine Faszination für Plastik im künstlerischen Kontext thematisiert. Wie behältst du deine positive Herangehensweise und Handlungsfähigkeit, obwohl du dich mit Verschmutzung und Klimakrise beschäftigst und erkennen musst, dass Plastik in jeder Ecke der Welt zu finden ist?  

CAROLIN

Ich muss dabei an Rückkopplungen denken. Ich glaube, dass die Entwicklung der Plastikverschmutzung viel mit der Entkopplung unseres Lebens und Arbeitens von der Natur zu tun hat. Wir haben uns von ihr entfernt und haben gleichzeitig eine starke Sehnsucht, in der Natur zu sein. Wenn wir in der Natur sind, begegnen wir immer mehr unseren Spuren und sind beschämt oder gelähmt. Es kommt zu einer schmerzhaften Rückkopplung. Oder Ignoranz.

Ein Ansatz dazu, der schon in den 80ern entwickelt wurde, ist das Prinzip „Cradle to Cradle“ von Michael Braungart: „Die ganze Nachhaltigkeitsdiskussion dreht sich um die Frage, wie wir Menschen unseren Fußabdruck auf der Erde verringern können. [...] Aber was wäre, wenn wir aus unserem Fußabdruck ein Biotop machen könnten? Alles kann Nährstoff sein. Menschen sind die einzigen Lebewesen, die Abfall verursachen, alle anderen machen Nährstoffe. Das muss auch unser Ziel sein: Wir wollen den Fußabdruck feiern.“

Hier komme ich zurück zu unserer Idee mit den Algenplastiktüten für das Ocean Future Lab: Wir stellen etwas gemeinsam her, das benutzbar ist und nach dem Gebrauch ins Meer zurückgeworfen werden, als Dünger verwendet oder sogar aufgegessen werden kann. Mich motiviert diese Art zu denken viel mehr, als sich mit Schuld zu beschweren oder das Gefühl zu haben, wir als Menschen sollten besser gar nicht da sein, was für die Natur wahrscheinlich am besten wäre.

SUMMER OF 2030 – AMELIE

Ich sehe in dem Prinzip „Cradle to Cradle“ auch großes Potential. Im 10-wöchigen Training „Circular Thinking” bei der Dark Horse Academy in Berlin habe ich tolle Ansätze für zirkuläre Konzepte und Kollaborationen kennengelernt. In einer Stadt in Dänemark arbeiten die größten Industrieunternehmen der Stadt sektorübergreifend zusammen, um überschüssige Energie, Wasser und Materialien gemeinsam zu nutzen, sodass weniger verschwendet wird. Da öffentliche und private Unternehmen physisch miteinander verbunden sind, schafft der Ressourcenüberschuss eines Unternehmens einen Mehrwert für ein anderes. Auch hier liegt die Kraft für Veränderung erneut in Kollaboration.

Der Glaube, dass die Natur vom Menschen getrennt ist, dass Natur und Zivilisation Gegensätze darstellen und dass Zivilisation besser ist als nutzlose Natur, sind Denkweisen des Kolonialismus, die wir übernommen haben und bis heute leben. Das Absprechen von Menschsein und die entkoppelte Sichtweise von Natur und Mensch als Legitimation für Ausbeutung müssen im Zusammenhang betrachtet, adressiert und ununterbrochen entgegengewirkt werden. Mit dem Narrativ „Natur und Mensch im Einklang“ können neue Handlungsfelder aufgemacht werden. Was sind deine Wünsche bezüglich deiner Arbeit für die Zukunft bzw. dein Summer of 2030?

CAROLIN SEELIGER

Ich habe den Wunsch, weiterhin mit Algen und Plastik zu arbeiten. Und für 2030: ein Algenrestaurant („eating the sea“) und ein Museum für moderne Plastik eröffnen.


(11.07.2022)

@carolinseeliger

Abbildungen und Fotos

1. © Gernot Seeliger

2. deep sea #06, scanogram, 2018, 85 x 100cm

3. deep sea #02 (Thysanoteuthis rhombus), scanogram, 2018, 85 x 100cm

4. Spitzbergen 01, scanogram , 2022, 85 x 100 cm

5. Spitzbergen 02, scanogram ,2022, 85 x 100 cm

6. Hinlopenstretet 03, lumenprint, 2022, 40,4 x 50,4 cm

7. Hinlopenstretet 04, lumenprint, 2022, 40,4 x 50,4 cm


 
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